„Müssen wir streiten? Und was passiert, wenn wir nicht streiten?“ Diese beiden Fragen werden im Klappentext des knapp sechzig Seiten umfassenden Büchleins „Streiten? Unbedingt! Ein persönliches Plädoyer“ aus der Reihe „Debattenbücher“ des Dudenverlags gestellt. Michel Friedman, bekannt als Moderator oder Mitwirkender in gesellschaftlichen und politischen Podiumsdiskussionen, äußert sich darin öffentlich zu seiner wohl für alle, die ihn kennen, sichtbarsten Leidenschaft: Er ist ein streitbarer Gesprächspartner. Er gilt als streitbarer Mensch.
Weshalb ist streiten für ihn als Mensch, Philosoph, Publizist oder Rechtsanwalt so selbstverständlich? Sein Plädoyer gibt darüber Auskunft. Er spinnt die Fäden aus seinen Kindheitserfahrungen und Familienerlebnissen. Sein Interesse für Sprache und sein Training des Zuhörens beginnt unter dem Esstisch, um den „Sprechkonzerten“ seiner Familie zu lauschen (S. 20).
Streiten als eine sprachliche Form der Auseinandersetzung mit anderen und auch mit sich selbst dient der Wahrheitsfindung. Wie lässt sich sonst das eigene Denken besser überprüfen. Welche eigenen Annahmen stecken hinter den Gedanken, manchmal auch hinter der Interpretation von Gefühlen? Welche Werte verbergen sich hinter den Vorstellungen, weshalb etwas nur so und nicht anders sein kann oder soll? Woraus ergeben sich Handlungen, wann unterbleiben sie? Welche Annahmen werden zu Wahrheiten, die in die Welt gelangen, um sich dort zu manifestieren, Gefolgschaft zu finden, groß zu werden?
Meinungen werden immer häufiger als Wahrheiten verkündet. In den sozialen Medien werden Beiträge durch Aufmerksamkeit gesteuert und priorisiert. Katastrophenmeldungen aktivieren Gefühle und polarisieren. Je dramatischer die Meldung, umso höher die Aufmerksamkeit. Darin steckt genug Wahrheitsgehalt für alle Algorithmen, die Meldungen nach vorne spülen. Wahrheit wird dann, was mehrheitlich gelikt wird. Wäre die Welt nur so einfach.
Friedmans persönliche Botschaft ist eine Gegenposition zu dem typischen Gebaren der sozialen Medien und ihrer Betreibenden. Er steht dafür, dass sich Wahrheiten nur im „Ringen“ um Meinungen, Erfahrungen, Wissen, Perspektivwechsel entwickeln lassen. Ja, selbst die eigene Position braucht zur Schärfung des eigenen Standpunkts einen anderen Blickwinkel. Friedman will wissen, was Menschen bewegt oder antreibt. Aus seiner Rolle als Rechtsanwalt muss ihm das ein Anliegen sein. Im Streit sieht er den notwendigen Prozess, aus den unterschiedlichen Positionen eine Schnittmenge herauszuarbeiten. Der Streit führt als Weg dorthin. Er bietet die hoffnungsvolle Vorannahme, dass zwei Menschen oder zwei Parteien sich aus unterschiedlichen Positionen kommend aufeinander zu bewegen.
„Die eine (objektive) Wahrheit gibt es nicht (wenn man nicht religiös ist), sondern viele Perspektiven von Wahrheiten.“ (S. 33)
Friedman grenzt Tatsachen und Realitäten von Wahrheit ab. Das Ringen um Wahrheit ist dann eher ein Prozess, sich über Fragen dem Wesentlichen des zugrunde liegenden Gedankens zu nähern, quasi zu „des Pudels Kern“ vorzustoßen. Den Prozess des Fragestellens beherrschte auch Sophokles schon vor 2.500 Jahren und machte sich damit nicht unbedingt beliebt in der griechischen Bürgerschaft. Er wurde unter anderem angeklagt, die Jungen zu verwirren und aufzuwiegeln, was ihm letztendlich sein Todesurteil einbrachte. Die sonst so weltoffenen Griechen waren also nicht über jeden Zweifel erhaben, den aber fordert Friedman, der den Zweifel als einen unverzichtbaren Teil und Antrieb eines jeden Streits ansieht.
„Das nicht jeder Konflikt, jeder Streit schnell zu Kompromissen führt, dass Streitigkeiten sehr lange dauern können, ist eine Herausforderung, die schwer auszuhalten ist.“ (S. 53)
Friedman appelliert an die Geduld, die uns komplexe Themen oder Fragestellungen, welche oft langwierige und schwierige Verhandlungen benötigen, abverlangen. „Radikale Kompromisslosigkeit“ hält er dabei für eine Sackgasse.
Sein Credo für ein „unbedingtes Streiten“ ist keine Einladung zum Herumbrüllen oder zum Manipulieren. Er sieht alle Diskutierenden als Gleichberechtigte an und fordert grenzenlose gegenseitige Anerkennung. Und Regeln, wie gestritten werden sollte. Eine Art Streitkultur. Ein respektvoller Umgang unter Anerkennung der Menschenrechte ist für ihn selbstverständlich.
„Der Streit ist wunderbar, herausfordernd, schmerzhaft, anstrengend, hoffnungsvoll, kränkend, sinnlich, leidenschaftlich, still und leise, laut und brüllend, kognitiv und emotional – und hört nie auf.“ (Klappentext)
Zum Buch:
Michel Friedman: Streiten? Unbedingt! Ein persönliches Plädoyer. Berlin: Dudenverlag 2021. 60 Seiten. Taschenbuch: ISBN-Nr. 978-3-411-05989-8. 8,00 €. E-Book (EPUB): ISBN-Nr. 978-3-411-91364-0. 5,99 €.
Zum Autor:
Michel Friedman ist Rechtsanwalt, Philosoph, Publizist und Moderator. Er wurde 1956 in Paris in eine polnisch-jüdische Familie hineingeboren, 1965 zog die Familie nach Frankfurt um. Er studierte Jura und promovierte, später folgten ein Studium der Philosophie und eine zweite Promotion. Michel Friedman engagiert sich vielfältig politisch, unter anderem im Zentralrat der Juden und gegen Rechtsradikalismus sowie für die Integration Geflüchteter. Er ist Direktor des Center for Applied European Studies (CAES) an der Frankfurt University of Applied Sciences. Die Öffentlichkeit kennt ihn aber vor allem als einen „public intellectual“, der sich bei den wichtigen streitigen Debatten in Deutschland einbringt. (Klappentext)